Nach der Lebensmitte
“Der vollständige Lebenszyklus” – an meinen Markierungen, die ich bei wiederholtem lesen eines Buches stets in anderer Farbe anbringe, erkenne ich, dass Dinge, die mir bei den vorhergehenden „Lesungen“ wichtig waren, heute, Jahre später, keine Bedeutung mehr haben. Themen, die mir damals ungemein wichtig waren, sind durch neue ersetzt worden. Es scheint normal zu sein, dass vieles im Nachhinein nicht mehr so dramatisch beurteilt wird.
Ich sitze an meinem Schreibtisch, schaue zum Fenster hinaus und denke über meine Zeit nach. War sie gut? War sie schlecht? Hätte ich mehr erreichen können, wenn ich mich hier und da anders entschieden hätte? Auf alle Fälle war es eine turbulente Zeit.
Nicht immer ist alles optimal gelaufen. Krankheiten, Arbeitslosigkeit und verschiedene Krisen brachen über mich herein. Aber langsam, immer der Reihe nach.
Die Startbedingungen hätten, so sehe ich das, besser sein können. Selbstvertrauen wurde mir weder in die Wiege gelegt noch mit auf den Weg gegeben. Es war ein mühsamer Weg Achtung vor mir selbst zu erlangen. Mangelndes Selbstvertrauen habe ich lange Zeit mit selbstbewusstem und selbstsicherem Verhalten maskiert. Letztendlich hat mir diese Maskerade aber mehr geschadet als genutzt.
Warum ich so bin wie ich bin habe ich erfahren, als ich mit der Psychologie in Berührung kam. Ich war gerade in der Ausbildung zur ehrenamtlichen Beraterin. Während dieser Zeit kamen viele Dinge zum Vorschein, die ich fest verschlossen glaubte. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass ich auf dem besten Weg war, in die Fußstapfen meiner Eltern zu treten.
Fleißig, strebsam, höflich, hilfsbereit sollten meine Kinder werden – so wie ich Sie sollten es zu etwas bringen.
„So lange du die Füße unter meinen Tisch streckst… “ oder „immerhin bin ich noch deine Mutter“, entschuldigen Sie, aber jetzt muss ich gerade herzhaft lachen. Nie wollte ich diese Sätze in den Mund nehmen.
Während dieser Ausbildung wurde mir ganz schnell bewusst, dass ich meine eigenen Wünsche in die Kinder hinein projizieren wollte. Leben ist aber nicht planbar und das von Kindern schon gar nicht. Bei meinem Erziehungseifer hatte ich etwas Wesentliches übersehen, nämlich, dass meine Kinder, genau wie ich, einmalig sind. Die folgenden Worte meines Ausbilders sind noch immer sehr präsent:
Einmalig und verschieden ist nicht nur ihr Aussehen, sondern sind auch ihre Gedanken und Gefühle. Gott kopiert nicht und noch weniger klont er. Wir Menschen werden zwar alle als Originale geboren, aber leider sterben viel zu viele von uns als Kopien.
Ich habe erzogen, so gut ich konnte und so gut es mir eben möglich war. Wir hatten Glück. Für einen Richtungswechsel war es nicht zu spät. Heute begegnen mir meine Söhne als erwachsene Menschen und es macht Freude mit ihnen zusammen zu sein.
„Das macht man nicht!“ und „das macht man doch als Mädchen nicht!“ Später kam die Steigerung: „Das macht man doch in deinem Alter nicht mehr!“, war die Reaktion meiner Mutter, als sie von meinem theologischen Studium erfuhr. Ob ich mich auf dem Selbstverwirklichungstrip befände, frotzelten spitze Zungen.
Schneiderin oder Lehrerin für „Handarbeit und Religion“ waren meine Berufswünsche. Eine brotlose Kunst, sagten die Leute. Tieftraurig begann ich eine Lehre zur Bankkauffrau. In der Nachschau war diese Entscheidung so schlecht aber nicht. Nach einem BWL Studium auf dem zweiten Bildungsweg habe ich heute einen anspruchsvollen und sicheren Arbeitsplatz, der kaum monotone Routine kennt.
Während der „Kinderpause“ lernte ich an der Volkshochschule das Nähen, – bis zur Perfektion! Der Traum von der Religion ging vor zwei Jahren mit dem „Theologischen Kurs“ in Erfüllung. Und Lehrlinge unterrichten durfte ich auch.
Von vielen erzieherischen Normen, die mir von Eltern, Lehrern und Kirche vorgegeben wurden, habe ich mich noch immer nicht vollständig gelöst. Dennoch bin ich mit den Jahren unabhängiger von der Meinung anderer geworden. Vieles, was ich immer machen wollte, habe ich in Angriff genommen und verwirklicht.
Verbindender Glaube entfaltet sich in der Regel nach der Lebensmitte, wenn wir unwiderruflich Verantwortung für uns und andere übernommen haben, wenn wir gelernt haben auch mit dem Scheitern, mit dem Verlust und dem Tod geliebter Menschen zu leben, sagt „Erikson“
Wie sieht es mit meinem Glaubensstil in der jetzigen Lebensphase aus? An Gott habe ich schon immer geglaubt und diesen Glauben auch nie verloren. Was es aber heißt: „Gott begegnet uns immer in Menschen“, das wurde mir erst im Rückblick auf mein Leben deutlich.
Mein Glaubensstil ist mit den Jahren lockerer geworden. Locker mag vielleicht der falsche Ausdruck sein. Freier, ja genau, das passt besser. Was Freiheit heißt habe ich sehr spät, erst während des „Theologischen Kurses“ erfahren. Heute plagt mich kein schlechtes Gewissen mehr, wenn ich den Sonntagsgottesdienst versäume, weil ich einem Menschen meine Zeit schenke. Auch das ist „Gottes-Dienst“. Nicht dass Sie mich jetzt missverstehen. Die gemeinsame Eucharistiefeier macht für mich nach wie vor den Sonntag aus. Aber wenn es nun mal nicht geht, dann geht es eben nicht. Und wenn ich etwas „muss“, dann ist es mit der Freiheit aus, nicht wahr?
Fazit:
Den Sprung ins Leben hätte ich mir anders gewünscht. Die Startbedingungen für ein gelingendes Leben hätten besser sein können. Vieles ist mit gelungen, vieles nicht. Schaue ich mir meinen Lebensfilm in der Rückschau an, stelle ich bei genauerem Hinsehen fest, dass es durchaus Dinge gibt, wofür es sich lohnt Danke zu sagen. Ich habe einen Mann, der mich nimmt wie ich bin und zwei wunderbare Söhne. Es traten Menschen in mein Leben, die mich ein Stück begleiteten und mein Leben bereicherten. Ich fand Freude an meiner Arbeit und habe die Kraft diese auch zu leisten. Viele kostbare Erfahrungen liegen einige Zeit zurück. Dennoch, ich habe diese Erfahrungen gemacht und kann davon erzählen. Heute sagen zu können, es war gut so, wie es war, dafür bin ich dankbar.
Inzwischen ist es spät geworden. Draussen rieselt leise der Schnee. Nachdenklich schaue ich in die Nacht. Sollten wir Menschen doch alle in das gleiche Schema passen? Auf jeden Fall stimmen meine Gedanken zur Phase “Nach der Lebensmitte“ haargenau mit denen von „Erikson“ überein:
- Unabhängig von den Eltern und der Meinung anderer werden
- Wenn die Kinder gehen, – eigene Wege gehen und eigene Interessen finden
- Sich selbst akzeptieren lernen – ich bin gut, so wie ich bin
- Frieden schließen
- Erfahrungen weitergeben
- Etwas schaffen das für andere wichtig ist
- Erkennen was Freiheit bedeutet
- Erkennen, dass das Leben kein „Entweder – Oder“ sondern ein „UND“ ist
- Dankbar sein
Die nächste und zugleich auch letzte Lebensphase ist nach „Erikson“ das “Alter”. Da wir heute eine größere Lebenserwartung haben als früher, schiebe ich diese letzte Phase gerne noch ein wenig vor mir her. Dennoch, keiner von uns weiß wann der Tod anklopft. Die Jungen nicht und auch nicht die Alten. Eines ist jedoch gewiss, unser Leben ist endlich. Deshalb gilt:
Lebe endlich!
Christa Schwemlein
Lesestoff:
- Erik H. Erikson -
Der vollständige Lebenszyklus
Nachtrag: 15.01.2010: – Mehr Lesestoff:
“Die Kunst des Alterns” ist ein Blog, welches ich erst kürzlich entdeckt habe. Claudia Klinger, die in Berlin lebende Blogautorin, setzt sich dort zusammen mit ihren Lesern mit den Fragen des Alters auseinander. Empfehlenswert!
Der Beitrag wurde am Dienstag, den 28. Dezember 2010 um 23:34 Uhr veröffentlicht und wurde unter Bücher, Eigene Gedanken zu..., Kirche, Vertrauen, Zeit, Zitate abgelegt. du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. du kannst einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf deiner Seite einrichten.
7 Reaktionen zu “Nach der Lebensmitte”
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Am 1. Januar 2011 um 23:22 Uhr
[...] mich in 2011 etwas treiben zu lassen oder wie in einem meiner vorhergehenden Beiträge geschrieben, endlich zu leben. Ich freue mich schon jetzt auf die Studienreise im März in den Oman und nach Dubai, zusammen mit [...]
Am 9. Januar 2011 um 15:52 Uhr
Hallo Christa,
über deinen Blog erfahre ich dich intensiver, als dies in der Vergangenheit durch Telefonate bzw.kurze Besuche möglich war. Deine Ausführungen in “Nach der Lebensmitte” sprechen mich an und ich möchte dir zu den letzen Worten “Lebe endlich” noch hinzufügen: “Liebe endlich”. Über diese Thema würde ich gerne mit dir sprechen. Ist dies ein Vorsatz für 2011 für dich und mich?
Herzliche Grüße Elisabeth
Am 9. Januar 2011 um 19:20 Uhr
Liebe Elisabeth,
schön, dass du dich traust hier zu kommentieren. Das freut mich sehr, denn durch die Kommentare beginnt ein Blog zu leben.
Auf diesen Beitrag bekam ich einige E-Mails. Es scheint ein Thema zu sein, das viele Menschen aus meinem kleinen Leserkreis bewegt und umtreibt.
Liebe endlich? Darüber können wir gerne sprechen. Meine Einstellung zur Liebe hat sich in den lezten Jahren, genauer gesagt seit unserem theologischen Kurs, grundlegend geändert. Unser Dozent in “Christlicher Gesellschaftslehre” hat bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen, ebenso unser Mentor.Vielleicht magst du auch diesen Beitrag lesen:
http://ver-rueckt.net/?p=4979
Schade, dass das mit dem Treffen im Dezember wegen des Wetters nicht geklappt hat. Ein Vorsatz für 2011 für mich ist, dich bald wieder zu sehen.
Liebe Grüße Christa
Am 9. Januar 2011 um 21:54 Uhr
[...] das Älterwerden stehe mir richtig gut. Ich denke, es kommt immer darauf an, was man aus diesem letzen Lebensabschnitt [...]
Am 14. Januar 2011 um 11:50 Uhr
Liebe Christa,
eine schöne Art, mal zum Jahreswechsel Bilanz zu ziehen! Und toll, dass du deine Leser/innen daran Anteil nehmen lässt.
Das “Programm” am Ende kann ich voll unterschreiben (mit der Ausnahme, dass ich keine Kinder hatte). Es ist wunderbar, innerlich von den Meinungen anhderer unabhängiger zu werden – und genau das ist auch eine Voraussetzung, um nützlich zu sein.
Mein Blog kunst-des-alterns.de hab ich gestartet, um auch solche Themen zu besprechen. Und um ganz allgemein dem Trend entgegen zu wirken, sich mit zunehmendem Alter aus der Öffentlichkeit zurück zu ziehen, weil man nicht mehr den Normen der Jugend entspricht.
Die Werte späterer Tage sind ganz ebenso wichtig – schließlich sind Staaten mit überdimensional viel Jugendlichen auch die Unfriedlichsten – nur so als Beispiel.
Sei herzlich gegrüßt
Claudia
Am 15. Januar 2011 um 09:53 Uhr
Liebe Claudia,
vielen Dank für deinen Kommentar. Leider habe ich ihn erst eben entdeckt. Ich war gerade dabei meine Leser mit einem Link auf dein interessantes Blog aufmerksam zu machen. Da ich die meisten meiner Leser auch persönlich kenne, weiß ich, dass sie von ähnlichen Fragen umgetrieben werden.
Herzliche Grüße
Christa
P.S.
Entschulidge bitte die späte Freigabe. Aber dein Kommentar habe ich zufällig im SPAM entdeckt. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mich nicht so oft “hinter den Kulissen” von WordPress tummle. Künftig werde ich das wohl öfter tun. Wer weiß, vielleicht befinden sich da viele interessante Kommentare und ich weiß von nichts. Lieben Gruß nochmal und schönes Wochenende.
Am 10. Februar 2011 um 23:15 Uhr
[...] Ihr habt beschlossen, endlich zu leben! Entschuldige Hans, dass ich dich unterbreche, aber deine Worte erinnern mich an einen meiner älteren Beiträge. [...]