11. Dezember 2009 von Christa

Das Tagebuch – “Dummerle” und “Dickerle”

Heiligabend: Raclette / 1. Weihnachtsfeiertag: Feldsalat mit Speck – Gans, Kastanien, Rosenkohl und Klöße- Apfel-Himbeergrütze / 2. Weihnachtsfeiertag: Reste / Sonntag: Essen gehen. Perfekt!

das-tagebuchSie nimmt die Rezeptsammlung und stellt sie ins Küchenregal zurück. Dabei fällt ihr Blick auf die in Reih und Glied stehenden Diättagebücher. Seit ihrem ersten Besuch bei den WW führt sie bei jeder Gewichtsreduktion Buch. Gewissenhaft notiert sie Erfolge, Aktivitäten und Befindlichkeiten. Das Schreiben ist wichtig für sie und ihren Erfolg. Sie mag diese stille Zeit, die nur ihr gehört. Gedankenverloren und in Erinnerungen schwelgend schlägt sie eines dieser Bücher im DIN A 4 Format auf und liest:

Donnerstag, den 23. Oktober 2005

TEIL 4 habe ich soweit durchgearbeitet. Auch mit dieser Lektion könnte ich mich noch längere Zeit beschäftigen. Meine Ungeduld zwingt mich jedoch weiter zu machen. Viele der psychologischen Themen und Arbeitsblätter erinnern mich an meine Therapie vor “zig” Jahren. Die Autorin des Abnehmkurses lehnt sich stark an meine damalige Therapeutin und deren Bücher an. Vielleicht arbeite ich deshalb so gerne mit diesem Programm. Hm, es stimmt wirklich, das was mir gefällt oder nicht gefällt hat immer mit meinen eigenen Erfahrungen zu tun.

Hängen blieb ich bei dem Kapitel “Kosenamen und mehr” – wieder mal Einreden und Glaubenssätze! Es ist spannend zu erfahren, welch starken Einfluss Zuschreibungen auf die Psyche haben können.

Ich vermute, jemand, der die Erfahrung nicht gemacht hat, als Kind ständig wegen seines Gewichtes gehänselt worden zu sein, kann gar nicht nachempfinden welche Auswirkungen derartige Sticheleien auf das spätere Leben haben. Wie auch? Wie will jemand die Schmerzen anderer verstehen, wenn er selbst nicht weiß, wie sich diese Schmerzen anfühlen?

Mit Schrecken denke ich an die Erdkundestunden in der 6. Klasse zurück. Es verging keine Unterrichtsstunde, in der ich nicht zu spüren bekam dass ich, bedingt durch mein Gewicht, anders als meine Mitschüler war. Schon damals war es so, dass man erst dann dazu gehörte, wenn man die Norm erfüllte. Ich passte nicht in diese Norm und das, obwohl ich laut Meinung der Schulärztin nur wenig übergewichtig war.

Erdkunde, wie sehr habe ich dieses Fach gehasst. Regelmäßig musste ich nach vorne, um auf der Landkarte Städte und Flüsse hoch im Norden zu finden. Die Karte hing hoch. „Man“ hätte sie auch anders, niedriger, einstellen können. “Man” hätte, ja. „Man“ tat es aber nicht. Ich musste  springen, um die Orte und Flüsse anzuzeigen. Springen, und immer wieder springen.

Damals war der Minirock in Mode. Hosen für Mädchen waren zu dieser Zeit an dieser Schule nicht erlaubt. Das Gelächter meiner Mitschüler und diesem Sadisten von Lehrer verfolgte mich lange Zeit. Irgendwann war ich in der Klasse die Dicke und zu Hause das „Dickerle“. Da meine schulischen Leistungen “nur” mittelmäßig waren, gaben mir meine Eltern einen Zweitnamen, „Dummerle“

Keiner meiner Mitschüler stand mir damals zur Seite. Im Gegenteil, sie fanden es lustig. In deren Augen war das, was sie taten, nicht schlimm.

Freunde, die mich hätten trösten können, hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine. Von meinen Eltern konnte ich keine Rückendeckung erwarten. Sie nahmen mich mit meinen Nöten gar nicht wahr. Sie hatten zu dieser Zeit ganz andere Probleme. Die Schwierigkeiten, die ich in der Schule hatte, waren für sie Kinderkram, der sich mit der Zeit verwächst.

Nach der mittleren Reife schwor ich mir wieder einmal:

  • Ich werde schlank.
  • Ich werde Freunde haben.
  • Ich werde studieren und
  • ich werde nicht weg sehen, wenn jemandem Unrecht geschieht.

All diese Kränkungen konnte ich nach dem ersten Klassentreffen in der Vergangenheit ruhen lassen. Mit Kosenamen, die auf meine Figur anspielen, spricht mich, mit Ausnahme meiner Mutter, heute niemand mehr an. Für sie bin und bleibe ich das “Dickerle” und das “Dummerle“.

Lange habe ich versucht dagegen anzukämpfen. Es hat mich jedoch so viel Energie gekostet, dass ich es irgendwann bleiben lies. Vor Jahren schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich ihr mitteilte, dass ich jetzt anders bin als früher, dass ich mich verändert habe. Diesen Brief habe ich nie abgeschickt. Sie war einfach schon zu alt, um zu verstehen, was ich meine.

***

Nachdenklich klappt sie das Buch zu. Eine Unterhaltung von neulich kommt ihr in den Sinn. Sie spürt, wie dieses Gespräch sie plötzlich einfängt und berührt. Wer hat sich nun verändert? Sie oder ihre Schulkameraden? Das damalige Klassentreffen ist ihr plötzlich in lebendiger Erinnerung. Mit Sicherheit ist dieses besondere Ereignis auch irgendwo schriftlich festgehalten. Sie schmunzelt, während sie sich daran erinnert.

© Christa Schwemlein  :-)

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Der Beitrag wurde am Freitag, den 11. Dezember 2009 um 23:57 Uhr veröffentlicht und wurde unter Das Tagebuch, Geschichten, Glück, Nur so... abgelegt. du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. du kannst einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf deiner Seite einrichten.

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