Ein Gesicht für jede Gelegenheit
Aus familiären Gründen geht Fasching in diesem Jahr spurlos an mir vorüber. So verbringe ich diesen närrischen Sonntag mit Lesen und Schreiben. Folgende Geschichte hat mich nachdenklich gestimmt und beschäftigt mich noch immer:
Der “Unereichte” und die Villa der Masken
Es war einmal ein Redner, ein viel gefragter Mann. Alle baten ihn um einen Vortrag oder wenigstens um einen Kommentar und er war immer bereit.
Immer fand er die richtigen Worte, so geschickt und so überzeugend, dass alle atemlos lauschten. In ihm verschmolzen die Wissenschaften. Er war Naturforscher, Philosoph und Theologe. Er wusste um die Anliegen der Jugend und um die Nöte armer Länder. Politiker, Erzieher und Sportler fragten ihn um Rat.
Nach einem höchst erfolgreichen Vortrag umringte ihn die Schar seiner Zuhörer mit viel Beifall und Lob. Das beobachtete ein kleiner Junge voller Bewunderung. So wollte er werden. Als der Unerreichte schließlich den Saal verließ, schlich der Kleine seinem Vorbild heimlich nach.Er ging durch Straßen und Gassen, Brücken und Treppen, bis eine Villa sichtbar wurde, die den Meister des Wortes aufnahm. Doch auch jetzt wollte der stille Bewunderer nicht umkehren. Er huschte um das Haus und spähte durch ein Fenster, durch das er den Redner erkannte. Es war ein überwältigender Anblick. Der ganze Raum war an den Wänden über und über mit den verschiedensten Masken geschmückt, die ernst oder freundlich, betroffen oder erheitert zum Fenster starrten.
Der große Redner wandte dem Betrachter den Rücken zu und hielt die Hände vor das Gesicht. Dann senkten sich die Arme und seine Finger legten fast gleichgültig ein Tuch oder etwas Ähnliches auf einen Tisch. Dann drehte sich der Redner dem Fenster zu: Er, der alles kannte, der überall mitreden konnte, der sich mit allen verstand, der überall zu Hause war, der sich nie ganz festlegte, dessen Worte nie Widerspruch erfuhren, der sich nie binden ließ.Die Augen des Jungen aber weiteten sich und seine maßlose Bewunderung wich grenzenlosem Entsetzen. Ein langer Schrei des Grauens und der Enttäuschung entfuhr seinem Mund: „Er hat kein Gesicht! Er hat kein Gesicht!“
Quelle: Konradsblatt Nr. 7 vom 18.02.2007
Der Beitrag wurde am Sonntag, den 18. Februar 2007 um 18:04 Uhr veröffentlicht und wurde unter Geschichten abgelegt. du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. du kannst einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf deiner Seite einrichten.
5 Reaktionen zu “Ein Gesicht für jede Gelegenheit”
Einen Kommentar schreiben
du mußt angemeldet sein, um kommentieren zu können.
Am 22. Februar 2007 um 22:40 Uhr
[...] Inspiriert durch die unterschiedlichen Nicks, sowie die Gespräche mit einigen von Euch habe ich für den heutigen Beitrag das Thema Masken gewählt. An dieser Stelle erinnere ich gerne an den Beitrag ein Gesicht für viele Gelegenheiten. [...]
Am 5. Februar 2008 um 17:22 Uhr
[...] Die Erklärung fand ich schließlich ich in meinem Beitrag ein Gesicht für jede Gelegenheit. [...]
Am 5. Februar 2008 um 23:07 Uhr
Letztes Jahr um diese Zeit habe ich fast rund um die Uhr Dienst in Esslingen gehabt, deswegen kannte ich diesen Beitrag garnicht. Die Geschichte ist absolute Oberspitze – klasse, Christa.
Am 6. Februar 2008 um 09:45 Uhr
Oberspitze?
Ich bekam damals Gänsehaut. Auch heut’ schüttelts mich noch beim Lesen.
LG-Christa
Am 7. Februar 2008 um 10:19 Uhr
Liebe Christa, ja auch ich hab eher Gänsehaut, wenn ich das lese. Was für eine “anschauliche” Geschichte, die einen wieder mal drüber nachdenken lässt, wie es ist, wenn man versucht, es jedem Recht zu machen. Wo bleibt man selbst, wenn man beliebt sein möchte usw. Auch wenn mein Gesicht im übertragenden Sinn einen Makel haben sollte, eine Narbe oder was auch immer, es ist MEIN Gesicht…
Danke für diese Geschichte.
Liebe Grüsse Andrea