Verloren und wiedergefunden – Ostanatolien 10
Während wir im Bus noch heftig über Konzile und deren Beschlüsse diskutieren nähern wir uns allmählich Mardin, unserem zweiten Reiseziel an diesem Tag. Malerisch schmiegt sich die Stadt an ein steil abfallendes Felsmassiv und zählt sicherlich auch wegen ihrer imposanten Lage zu einer der schönsten Städte Südostanatoliens.
Wegen des morgigen Opferfestes ist hier heute die Hölle los. Die ganze Stadt scheint wegen der bevorstehenden Feierlichkeiten auf den Beinen. Ähnlich wie bei uns kurz vor Heiligabend strömen auch hier die Menschen in Massen in die Geschäfte, um die letzten Einkäufe zu tätigen. Parkende Autos und hupende Dolmuşe verstopfen die Straßen. Stellenweise geht nichts vor und zurück.
Bayran, so der Name des mehrtägigen Festes, ist neben dem Ramadan das höchste Fest des Islam. Mit diesem Fest erinnern Muslime an Abrahams Bereitschaft, seinen eigenen Sohn Gott zu opfern. Ja, nicht nur im Juden- und im Christentum auch im Islam wird Abraham als wichtiges Glaubensvorbild betrachtet. Wer die finanziellen Möglichkeiten hat, schlachtet anlässlich des Festes ein Schaf und teilt das Fleisch mit Verwandten und Bedürftigen.
Ein Teil unserer Gruppe steigt vor Beginn unseres Altstadtrundgangs mit unserem Reiseleiter hoch zur Burg, von der man einen fantastischen Blick über die mesopotamische Tiefebene haben soll. Ich bin faul, setzte mich auf eine Treppe, bestaune die Burg und den Burgfelsen kurz von unten und beobachte anschließend das wuseligen Treiben in den Straßen des multikulturellen Städtchens. Hier in der Region leben Menschen mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen und das spiegelt sich auch in Mardin’s Stadtbild wieder.
Inzwischen ist unsere Gruppe wieder vollständig beisammen und wir drängen uns, wie alle anderen auch, durch die engen Altstadtgassen. Vor jeder Fleischerei liegen Berge von Schafsköpfen, deren Blut sich den Weg abwärts in die Kanalisation bahnt. Kein schöner Anblick. An einer Straßenkreuzung bemerken wir, dass wir den Herrn mit den freundlichen Augen verloren haben. Das letzte Mal wurde er vor dem Aufbruch zu unserem Altstadtspaziergang gesehen. Mist, keiner von uns hat seine Handynummer und er keine von uns. Zwei aus unserer Gruppe gehen zurück, um ihn zu suchen, vergeblich. Süheyl wirkt besorgt, versucht jedoch sich nichts anmerken zu lassen. Die Gefahr sich in der Menschenmenge zu verlieren ist groß. Nach etwa einer halben Stunde kommt Entwarnung. „Der ‚verlorene Sohn’ sitzt wohlbehalten im Bus“, meldet Hussein, unser Busfahrer.
Zum Mittagessen sind wir bei der Frauenschutzorganisation „Kamer“ eingeladen. Diese Hilfs- und Schutzorganisation entstand 1997 in der Osttürkei und engagiert sich für Frauen in Not. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht hilfesuchenden Frauen Schutz zu geben, sie zu fördern und weiterzubilden, damit sie künftig auf eigenen Beinen stehen können. Im Gespräch mit den Frauen erfahren wir, dass neben häuslicher Gewalt auch Ehrenmorde Thema sind.
Unser Hotel, im Katalog mit 5 Sternen ausgezeichnet, ist enttäuschend. Wir wohnen im 9. Stock. Zimmer und Bad haben den Charme von vorgestern, der Speisesaal gleicht einer Kantine. Dennoch verbringen wir einen schönen Abend zusammen mit Yasemin, dem „verlorenen Sohn“ und dem Herrn aus Basel.
Christa Schwemlein
Kleingedrucktes:
Erlebt am Montag, den 14. Oktober 2013.
Der Beitrag wurde am Montag, den 1. September 2014 um 20:09 Uhr veröffentlicht und wurde unter Reisen abgelegt. du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. du kannst einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf deiner Seite einrichten.
4 Reaktionen zu “Verloren und wiedergefunden – Ostanatolien 10”
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Am 3. September 2014 um 19:11 Uhr
Sehr eindrucksvoll und treffend wiedergeben. Ich als Mitreisende kann es voll bestätigen. Erwarte die nächsten Kapitel mit größter Spannung! Christa, lass mich nicht schmoren!
Am 3. September 2014 um 20:01 Uhr
Na, das ist vielleicht eine Überraschung. Hast du dich wiedererkannt Yasemin? *lach*
Liebe Yasemin, es wird noch ein bisschen dauern bis die nächsten Kapitel blogreif sind. Ab jetzt habe ich nur noch spärliche Notizen und das macht’s schwieriger. Ich habe mir aber fest vorgenommen, diese tolle Reise vollständig zu Blog zu bringen. Musst halt immer mal wieder reinschauen.
Alles Liebe und Gute für dich und wir bleiben in Kontakt. Internet macht’s möglich!
Herzliche Grüße
Christa
Am 3. September 2014 um 22:53 Uhr
Liebe Christa. Auch Dir alles Liebe und Gute.
Am Anfang habe ich mich selbst nicht erkannt. Der Überseekoffer hat mich enttarnt.😊 Es war eine wunderschöne Reise, besonders mit euch zwei Lieben😊
Am 4. September 2014 um 08:57 Uhr
Danke Yasemin.
Bis demnächst im “Reallife”.