Herzlos?
Unser Herz ist der Ort in dem unsere Gefühle zu Hause sind. Ereignisse wie der Fall des Münchner Geschäftsmannes, der von einer Gruppe Jugendlicher zu Tode geprügelt wurde, weil er bedrohte Kinder vor ihnen schützen wollte, beschäftigen uns. Sie bewegen uns, treffen unser Innerstes und gehen uns zu Herzen. Oft hinterlassen sie blankes Entsetzen, Ohnmacht und Wut, aber auch Rat- und Hilflosigkeit. Verzweifelt wird nach Erklärungen und Ursachen gesucht.
“Er sah ihn und ging weiter” heißt es in der Beispielerzählung vom “barmherzigen Samariter“, mit welcher ich mich, ausgelöst durch die Beiträge meiner BlogkollegenInnen, in meinen letzten Beiträgen beschäftigte.
Die Katastrophe von München hat viele bewegt und ließ angesichts des unfassbaren Leids manches Herz schneller schlagen. Warum sahen im Fall des Münchner Geschäftsmannes so viele weg? Warum griff niemand helfend ein? Wo ist die „Barmherzigkeit“ geblieben, die Bereitschaft sich berühren zu lassen? Manche mögen sich vielleicht auch fragen, was wohl das Herz des 50jährigen Geschäftsmannes bewegt haben mag, um ein derartiges Risiko einzugehen?
Dieses Unglück zeigt deutlich, die Menschen haben sich seit der Erzählung vom „barmherzigen Samariters“ kaum geändert. Nach wie vor gibt es Hinseher und Wegseher. Sicher erinnert sich jeder, der hier mit liest, an Situationen, wo er nicht weggesehen hat. Niemand muss sich unnötig schlecht machen. Nur das Wegsehen gibt es leider immer noch, meistens dann, wenn die Herausforderung so gar nicht in den eigenen Kram passt.
Vermutlich hatte sich der Samariter seine Reisepläne damals auch anders vorgestellt. Vielleicht hatte er es eilig? Gerate nie in Not, wenn Menschen spät dran sind, habe ich neulich aufgeschnappt. Dennoch ging dem Mann aus Samarien das Schicksal des halbtoten Menschen zu Herzen. Warum Priester und Levit, Leute aus der eigenen Religionsgemeinschaft, vorbeigingen wird wie so vieles in dieser Geschichte nicht erzählt.
Im Text wird ausdrücklich erwähnt sie gehen die Straße nach Jericho hinab, das heißt: Sie kommen vom Tempel. Wer schon einmal in Israel war weiß, dass Jerusalem auf dem Berg liegt. Eine gottesdienstliche Verpflichtung, die aus damaliger Sicht als Entschuldigung hätte herhalten können, kann es also nicht gewesen sein, die die beiden daran hinderte dem armen Kerl zu helfen.
“Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin“ las ich neulich bei Dori Kellers.
Person und Sache voneinander zu trennen ist ein Lebensmotto von mir.
Dennoch ertappe ich mich dabei Priester und Levit im ersten Moment als kalt und herzlos abstempeln zu wollen. Je mehr ich mich jedoch mit der Geschichte beschäftige, umso mehr stelle ich fest, dass ich anfange nach Gründen für das Verhalten der beiden zu suchen, um dieses in meinen Augen unmenschliche Verhalten verstehen zu können.
Die Straße von Jerusalem nach Jericho galt als ziemlich gefährlich und unsicher. Man kann also davon ausgehen, dass sich auf dieser Strecke schon mehrere Überfälle ereigneten. Vielleicht hatten die beiden Angst selbst überfallen zu werden? Vielleicht nahmen sie an, dass es sich bei dem Überfallenen um einen Lockvogel handelt und sie bekämen selbst eines über die Rübe. Es geht aus der Geschichte ja nicht hervor, dass die Räuber über alle Berge sind. Darf man in einer derartigen Situation solche Überlegungen anstellen?
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!
Wie groß darf, unter Berücksichtigung dieses Gebotes, das einzugehende Risiko sein?
Vielleicht hatten die zwei es auch nur eilig, wie ich anfangs schrieb? Oder sie konnten kein Blut sehen? Oder sie sagten sich: Ich kann doch nichts tun! Vielleicht dachten sie aber auch: Das ist wieder nur ein Scherz, wie all die anderen Male auch? Fragen über Fragen. Wer kann oder darf sich über dieses Verhalten ein Urteil erlauben?
Die Menschen haben sich scheinbar kaum geändert, schrieb ich eingangs. Es ist mittlerweile elf Jahre her. Mein kleiner Sohn war damals 10 Jahre, als er von einem Auto angefahren wurde. Der Autofahrer machte sich aus dem Staub. Weinend lief er mit seinem schrottreifen Fahrrad und seinen blutenden Schürfwunden nach Hause. Niemand fragte, ob er ihm helfen könne. Eine im Ort lebende Bekannte fragte mich später, was denn mit ihm passiert wäre, sie hätte ihn aus ihrem Auto heraus im Vorbeifahren gesehen. Herzlos, oder hatte sie es nur eilig?
Christa Schwemlein
Der Beitrag wurde am Sonntag, den 1. November 2009 um 22:00 Uhr veröffentlicht und wurde unter Blog-Geflüster, Eigene Gedanken zu..., Herz und Verstand, Kleine Bibelkunde, Zitate abgelegt. du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. du kannst einen Kommentar schreiben, oder einen Trackback auf deiner Seite einrichten.
Einen Kommentar schreiben
du mußt angemeldet sein, um kommentieren zu können.