8. Januar 2010 von Christa

Diesmal schaff’ ich’s nicht! – Das Tagebuch

Wieder einmal war sie mit ihrer Familie in Urlaub, als sie die Nachricht von dem Suizidversuch ihrer Mutter erreichte. Es war der dritte nach dem Tod ihres Vaters vor 5 Jahren.

Schon von weitem sah sie ihre Mutter alleine neben dem großen Aschenbecher an der Eingangstür des Krankenhauses stehen. Es war ein heißer Sommertag im August. Sie trug das ärmellose blaugrundige Blümchenkleid, dessen Saum schon seit ewigen Zeiten über dem rechten Knie herunter hing und das sie immer trug, wenn sie in diesem Zustand war. Das Loch im Kleid war neu. Hastig zog sie an ihrer Zigarette. Nie in ihrem Leben wird sie diesen hämischen Blick vergessen, der ihr zu verstehen gab: „Ha, hab’ ich’s mal wieder geschafft euch herzuholen.”

“WARUM gönnt sie uns diesen Urlaub nicht? Jetzt ist Schluss, ein für allemal Schluss”. schrie sie dem jungen Psychologen ins Gesicht. “Soll sich kümmern wer mag, ich nicht mehr. Ich bin jetzt Mitte dreißig, meine Kinder noch klein und vor lauter Mutter bleibt mir kaum Zeit für meine eigene Familie”. Wütend  stand sie auf und ging. Die Rufe ihres Mannes hörte sie nicht mehr.

***

das-tagebuchZwanzig Jahre später, es ist dunkel als sie vom Altenpflegeheim nach Hause kommt. Sie mag mit niemanden reden, will einfach ihre Ruhe haben und sich an ihrem Schreibtisch den Tag von der Seele schreiben. Es schreibt sich nicht! Sie blättert in ihrem Tagebuch und findet auch bald den Eintrag, den sie sucht:

Sonntag, den 11. Mai 2008

Wie ein Häufchen Elend lag sie da. Ich war erschrocken als ich sie heute in dem schwülwarmen Zimmer der Intensivstation besuchte. Schon oft war sie im Krankenhaus. Aber jedes Mal hatte sie großen Wert darauf gelegt zur Besuchszeit „gerichtet“ zu sein. Ungeschminkt und unfrisiert, so kannte ich sie nur in ihren depressiven Phasen. Die eingefallenen Wangen, die Schläuche in der Nase, der dicke Bauch und die dünnen Beine trieben mir die Tränen in die Augen. Stumm saß ich an ihrem Bett. Traurig schaute sie mich an und schluchzte: „Glaub mir, diesmal schaff’ ich’s nicht.”

Was sollte ich darauf antworten? Sie ist 80 Jahre alt und krank, sehr krank sogar. Ich schwieg und sie schlief kurz ein.

Nach einer Weile fing sie zaghaft zu sprechen an. Warum erzählte sie mir von ihrem Leben, das eigentlich nicht schön gewesen sei, sie nie richtig glücklich gewesen war, sie vieles gerne anders gehabt und gemacht hätte? Warum belastet sie mich damit? WARUM?
Ich mag das alles nicht hören. Am liebsten wäre ich gegangen. Es ist nicht einfach auf solche Klagen eine Antwort zu finden. Doch irgendetwas hielt mich zurück. Plötzlich spürte ich sehr deutlich, dass jetzt die Zeit gekommen war über gemeinsame Erinnerungen zu sprechen. Ich musste da durch!

Gemeinsam ließen wir ihr Leben Revue passieren. Überrascht stellte sie fest, dass es da durchaus auch schöne Momente gab – auch mit uns beiden. Sie erinnerte sich an gelungene Familienfeste, die bis in die frühen Morgenstunden andauernden und meist mit einem kleinen Feuerwerk und dem Lied“, so ein Tag, so wunderschön wie heute“, lautstark endeten. Sie sprach über Menschen, die bereits vor ihr gegangen waren.

Schweigend saß ich an ihrem Bett und hörte zu. Das Reden strengte sie an. Nach der Episode, wie ich als kleines Kind in unserem Garten allen blühenden Tulpen die Köpfe abschnitt, nickte sie lächelnd ein. Ich glaube, so zufrieden habe ich sie noch nie erlebt.

Ich war bereits im Aufbruch, als sie mich bat noch ein wenig zu bleiben. „Weißt du was ein Segen war?“ Verdutzt blieb ich stehen. „Mein letzter Suizidversuch“, sagte sie leise. Die Gefühle, die in diesem Moment in mir hoch kamen, kann ich nicht in Worte fassen. Nie mehr wollte ich etwas davon hören. Dieses Thema  hatte ich ausführlich behandelt und wie ich glaubte, auch abgehakt. Mit einem Schlag verwandelte sich meine gute Stimmung in Aggressivität. Ob sie es spürte? Ich weiß es nicht. Sie sprach auf jeden Fall unbeirrt weiter.
Sie erwähnte das Haus, das sie renovieren ließ und wie stolz sie war, die Finanzierung ganz alleine bewerkstelligt zu haben. „Weißt du noch, als ich nach Papas Tod noch nicht einmal wusste wie ein Überweisungsformular auzufüllen ist?“ Die Kurse bei der VHS haben ihr nicht zugesagt. Erst der Gesangverein brachte ihr das, was sie suchte: Freunde und Gemeinschaft. 

“What shall we do with the drunken sailer?” Jetzt mussten wir beide lachen. Mit den englischen Liedtexten tat sie sich schwer. Was muss ein deutscher Chor aber auch englische Lieder singen! Italienisch hingegen fiel ihr leicht. Leise summte sie “Alta Trinità ….”, das sie in Rom sangen. Die Chorreise nach Rom sei sehr schön gewesen, erzählte sie mir, aber kein Vergleich zu Moskau. Schon alleine der Flug, es war ihr erster, war ein Erlebnis.

“Und dann ist da noch dein Lebensgefährte, mit dem du schon 15 Jahre zusammen bist und der sich rührend um dich kümmert. Siehst du, so schlecht war es dann doch nicht! Du hast es schon so oft geschafft. Du wirst es auch diesmal schaffen. Und deinen 81. Geburtstag  feiern wir ganz groß”. Während ich ihr das versprach sah ich einen Funken Hoffnung in ihren Augen. 

***

Lustlos rührt sie in ihrem Milchkaffee. Die zurückliegenden Monate ziehen an ihrem geistigen Auge vorbei. Der 81. Geburtstag im April vergangenen Jahres war ein schönes Fest mit 63 Gästen.

“Alta Trinità beata, da noi sempre … ” singt sie leise. Dabei greift sie zu einem Stift, schlägt eine unbeschriebene Seite ihres Tagebuches auf und schreibt mit Tränen in den Augen:

das-tagebuchMittwoch, den 6. Januar 2010

Ich glaube, diesmal schafft sie’s nicht!

© Christa Schwemlein

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Eintrag Nr. 3230 | Kategorie Das Tagebuch | 11 Kommentare »





11 Reaktionen zu “Diesmal schaff’ ich’s nicht! – Das Tagebuch”

  1. Renate

    Sehr bewegend, liebe Christa! Wessen “Text” ist das?

    Herzliche Grüße – Renate

  2. Christa

    Das ist mein Text, liebe Renate. Von mir verfasst, sowie alle Texte auf http://www.ver-rueckt.net, wenn nicht ausdrücklich anderes dabei steht.

    Lieben Gruß aus einem kalten und verschneiten Mannheim
    Christa

  3. Petra W.

    Liebe Frau Schwemlein,

    von ihrem Eintrag bin ich wieder mal berührt, nachdenklich und dankbar.
    “diesmal schafft sie´s nicht” erinnert mich an meine liebe Kollegin Elfriede, die ich vor 7 Jahren 1 Woche im Hospiz begleiten durfte.
    Diese Erfahrung, so schmerzlich sie auch war,möchte ich nicht missen.Die Gespräche und die Gebete die wir damals miteinander hatten, sind gerade beim Lesen Ihrer Geschichte
    wieder so nah.
    Ganz besonders erinnere ich mich an einen Tag an dem mir meine sehr kranke Elfriede das Gedicht von Hans Dieter Hüsch “Der Clown” aufsagte.
    Damals fragte ich mich auch, weshalb ich das erleben muss.
    Heute kann ich mir die Antwort selbst geben.
    Im letzten Jahr, als ich grosse Angst um meinen Vater hatte,
    wusste ich, so wie er´s “schafft ” so wird es gut sein.

    Ich schicke ihnen ganz liebe Grüße und wünsche ihnen für alles Kommende alles Liebe

    Ihre Petra W.

  4. Christa

    Danke Petra, ich melde mich per Mail.
    Christa Schwemlein

  5. Renate

    Also, dein ganz persönliches Erlebnis, liebe Christa … ein Text, der zum Nachdenken und Nachfühlen anregt. Ein sehr berührender Text, bei dessen Schluss auch mir die Tränen in den Augen stehen.

    Herzlicher Gruß von Renate

  6. Carmen Fischer

    Hallo liebe Frau Schwemlein diesmal schaff ichs nicht erinnert mich an meine Zeit mit meiner Mutter sie war sehr depressiv wollte auch schon aus dem Leben gehn und ich hatte damals so wenig Verständniss erst durch ihrn Tod lernte ich sie besser zu verstehn . Muß man erst sterben um verstanden zu werden ???? Eine gute und schöne Zeit bleiben Sie gesund mit Ihrem lieben Mann .

  7. Christa

    Danke Frau Fischer, wir werden uns bemühen. :-)

    Ob man erst sterben muss um verstanden zu werden? Da habe ich keine Antwort d’rauf. Was ich aus meiner eigenen Erfahrung aber sagen kann. Wie wertvoll etwas für mich war habe ich oftmals erst dann festgestellt als ich es nicht mehr hatte. Sei es durch Tod oder auch weil ich es losgelassen hatte.

    Mein Mann und ich wünschen Ihnen und Ihrem Mann ein gutes und zufriedenes 2010.
    Christa Schwemlein

  8. Maria Wolfart

    Liebe Frau Schwemlein,

    nach längerer Zeit (…zig Weihnachtsbriefe geschrieben, einige Wochen in Mannheim gewesen ohne PC, Virusinfekt u.a….) hatte ich jetzt erst wieder Gelegenheit, in Ruhe Ihre Seiten nachzulesen. Dabei stimmte mich manches nachdenklich und traurig, anderes machte mich aber auch irgendwie zuversichtlich, weil ich sicher bin, dass Sie die derzeitigen Schwierigkeiten überwinden werden. Doch, wie mag es Ihnen im Moment gehen? Ob sie es diesmal schafft oder nicht? Unsere liebe Mutter hat es im verg. Jahr, nach langer Pflegebedürftigkeit nicht mehr geschafft, was sehr schmerzlich war für uns 6 Kinder. Trotzdem sind wir dankbar und erleichtert, dass sie es jetzt mit Sicherheit besser hat, als in den letzten Jahren. (NT Joh 14,1-3) Sie hatte einen festen Glauben und unsere Liebe und unsere Gebete begleiten sie.
    Besonders berührt hat mich auch Ihr Bericht von Ihrem stillen Besuch in unserer Kirche. GOTT allein weiß, wie sehr ich unsere Kirche vermisse, diesen wunderbar erlöst wirkenden Jesus an dem riesigen Holzkreuz im Altarraum, der förmlich zu Zwiegesprächen einlädt. Früher hatte ich einen Schlüssel für die Kirche, weil ich ja öfter mal mit meinen verschiedenen Gruppen in die Kirche ging, aber oft auch ganz alleine JESUS im Tabernakel Gesellschaft leistete und IHM alles brachte, was mich freute oder belastete. Manchmal wurde mir im Blick auf das Kreuz auch klar, dass jedes unabwendbare Leid oder Leiden uns etwas sagen will, uns Gelegenheit gibt, in uns hineinzuhören und mit DEM zu reden, DER auch unschuldig gelitten hat und DESSEN Leiden am Kreuz uns vor dem ewigen Tod bewahrt hat. Wir leben noch nicht im Paradies, sondern auf der Erde, in einer von Schuld und Leiden belasteten Welt, die aber wieder ins rechte Gleichgewicht gebracht werden soll.
    Eine mir, von ihrer Geburt an, nahe stehende jüngere Frau erzählte mir vor einiger Zeit von dem Konzept „offene Kirche“ der evangelischen Matthäusgemeinde in Neckarau. Auch dass sie sich – wie andere Ehrenamtliche – jede Woche eine Stunde in der offenen Kirche als Ansprechpartnerin aufhält und, – dass das ihr selbst und der ganzen Familie gut tut. Ich finde auch die gemeinsame Initiative versch. christl. Kirchen, dass dieses Jahr 2010 ein „Jahr der Stille“ sein soll, sehr begrüßenswert. Hoffe sehr, dass viele Menschen den Aufruf zu Stille und Besinnung nutzen, um im Alltag aufatmen zu können. Zum Schluss noch ein Satz von Sören Kierkegaard: „Ich meinte erst, beten sei reden. Ich lernte aber, dass beten nicht bloß schweigen ist, sondern hören“.
    Liebe Frau Schwemlein, von Herzen wünsche ich Ihnen viel Kraft für alles was jetzt ist oder noch kommen mag. Ich denke an Sie im Gebet und schicke liebe Grüße aus dem Odenwald.

    Maria Wolfart

  9. Christa Schwemlein

    Liebe Maria,

    vielen lieben Dank für Ihre Zeilen, die mich aufrichtig freuen – zumal ich den E-Mail Kontakt zu Ihnen ja abgebrochen hatte. Ihr Kommentar beweist mir, dass Sie mir dies nicht nachtragen. Danke!

    Es tut mir Leid aber ich kann ganz einfach nicht anders. Zuviele falsche “Schlangen” haben sich im Internet unter dem Deckmantel eines Pseudonyms an mich herangemacht. Leider und das ist traurig auch Menschen, die ich real kenne, die ich sehr gern mochte und mit denen mich einst viel verband.

    Zu Ihrem Kommentar:

    Für einen sterbenden Menschen kann ich beten, ja. Es tut mir gut, weil ich an die Botschaft Joh. 14,1-3 glaube. Falsch und unpassend finde ich einem Nichtgläubigen meinen Glauben überstülpen zu wollen – schon gar nicht am Sterbebett.

    Schön, dass Sie sich in meinem Beitrag “Alleinsein” in “unserer” Kirche wiederfanden. Es war tätsächlich die Bartholomäuskirche in Sandhofen. Ich sitze immer auf der rechten Seite, die Seite, die früher den Männern vorbehalten war. ;-) Ich sitze gerne da, weil aus diesem Blickwinkel betrachtet Jesus am Kreuz wirklich glücklich wirkt.
    Von der linken Seite, der “Frauenseite”, nimmt man ein völlig anderes Bild wahr.
    Freud und Leid in einem Bild darzustellen ist dem Künstler mit diesem Holzkreuz wirklich gut gelungen.

    Liebe Maria, bitte entschuldigen Sie die späte Antwort. Mein Mann und ich waren ein paar Tage im Schwarzwald, um ein wenig Abstand von zu Hause zu bekommen und um die Weichen für für 2010 so zu stellen, dass wir alle damit gut leben können.

    Herzliche Grüße
    Christa Schwemlein

  10. Dori

    Liebe Christa,
    so einige Parallelen habe ich wiedergefunden in Deinem Text, sehr schön geschrieben hast du ihn. Vor allem die Wut und die Aggressivität in diesen Momenten kann ich sehr gut nachvollziehen.
    Aus meiner Sicht hat meine Mutter das schönste Leben gehabt – im Vergleich zu meinem!
    Sie kann es jedoch nicht sehen und fühlen. Das tut mir für sie sehr Leid, aber es ist ihr Leben, und nicht meines.
    Allerliebste Sonnengrüße
    Dori :-)

  11. Christa

    “Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht in seinen Mokassins gegangen bist”, fällt mir ganz spontan ein.

    Ich denke, wenn wir verstehen warum Menschen so sind wie sie sind fällt es leichter Frieden mit ihnen zu schließen und mit unseren eigenen Kindern eine andere “Schiene” zu fahren.

    Ob wir danach alles richtig gemacht haben? Ohje….

    Müsste ich mir ein Zeugnis für Kindererziehung schreiben würde ich folgende Formulierung wählen.

    “Sie war stets bemüht ihr Bestes zu geben”. ;-)

    Liebe Dori vielen Dank für den Besuch und deinen Kommentar zu diesem Beitrag, der anscheinend viele Leser berührt und bewegt hat.

    Herzliche Grüße
    Christa

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